„Wie mutlos ich an manchen Tagen bin“, schrieb Lili Boulanger an ihre enge Vertraute Miki Piré, kurz vor ihrem frühen Tod, „weil ich begreife, dass ich niemals das Gefühl haben werde, das getan zu haben, was ich wollte, denn ich kann nichts ohne Unterbrechungen tun, und die sind länger als meine Arbeitsphasen selbst!“
Als Kind schon war die 1893 in Paris geborene Boulanger chronisch an Bronchopneumonie erkrankt und verbrachte einen Großteil ihres Lebens in Sanatorien. Ihr vielfältiges Œuvre entstand in bloß sieben Jahren (1911–1918). Das Werk oszilliert zwischen spätromantischen, impressionistischen und expressionistischen Klangsprachen – oft mit einer spirituellen Dimension – und umfasst vor allem Chor-, Vokal-, Orchester- und Kammermusik sowie Klavierwerke.
Lili Boulanger wurde in eine Musikerdynastie geboren. Katholisch erzogen, war sie von tiefer Religiosität. Ihre Mutter, die russische Prinzessin und Sängerin Raïssa Myschezkaja, machte die Familie mit Klängen der ostkirchlichen Liturgie vertraut. Boulanger nahm Privatunterricht in Harmonielehre, Orgel, Klavier, Violoncello, Violine und Harfe, außerdem hörte sie den Musikstunden ihrer älteren Schwester Nadia zu. Gabriel Fauré, ein regelmäßiger Gast im Hause Boulanger, gehörte zu ihren musikalischen Beratern und ließ sie ab und zu in seiner Kompositionsklasse hospitieren, wo unter anderem Maurice Ravel und George Enescu studierten. Mit sechzehn Jahren trat Boulanger trotz ihrer Krankheit zur Aufnahmeprüfung am Pariser Conservatoire an und erhielt zum ersten Mal systematischen Musikunterricht. Nur wenig später (1913) gewann sie mit der Kantate „Faust et Hélène“ als erste Frau überhaupt den renommierten „Prix de Rome“ und wurde über Nacht zu einer internationalen Berühmtheit.




